Jede vierte Person ab 70 Jahren – Männer und Frauen – ist von Inkontinenz, also Harnverlust, betroffen. Dennoch ist das Thema nach wie vor oft ein Tabu. Es beeinträchtigt die Lebensqualität stark und hat auch Auswirkungen auf die Psyche. Bewusstsein zu schaffen ist deshalb besonders wichtig. Der Leidensdruck kann oft ganz einfach gelindert werden. Mut zu fassen und um Hilfe fragen, ist der erste Schritt. Nicht immer ist sofort eine Operation nötig. In vielen Fällen helfen auch Medikamente oder Veränderung von Toilette- und Trinkgewohnheiten sehr gut.
„Prinzipiell ist Inkontinenz ein Tabuthema, über das sich viele nicht zu sprechen trauen. Auch wir Ärztinnen und Ärzte müssen erst das Bewusstsein gewinnen, dass wir dieses Thema aktiv ansprechen“, bestätigt Primaria Dr.in Eva Pavelka, Leiterin der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe an der Klinik Oberpullendorf. Denn betroffene Personen ziehen sich oft sozial zurück. „Sie nehmen an keinen Busreisen mehr teil, treffen sich nicht mehr im Café mit Freundinnen oder Freunden, weil sie Angst haben, dass es plötzlich unangenehm riechen könnte oder sie im Gespräch aufspringen müssen“, verdeutlicht die Primaria. Dieser soziale Rückzug wiederum kann zu Depressionen führen und fördert die Demenzentstehung.
Vorbeugung: kurz, aber regelmäßig
Vorbeugend gegen Inkontinenz sollte der Beckenboden regelmäßig trainiert werden. „Der gesunde Beckenboden braucht wirklich aktiv Aufmerksamkeit. Nicht viel, vielleicht fünf Minuten am Tag“, verdeutlicht Primaria Eva Pavelka. Und es sei nie zu früh zu beginnen. Den Beckenboden zehn Mal anspannen, eine kurze Pause machen, drei Wiederholungen und man hat sein Tagessoll erledigt und den Muskel gut trainiert, so der Tipp der Expertin.
Ganz wichtig dabei: Es geht nicht nur um das Anspannen, sondern auch um das Entspannen des Beckenbodens. Viele Probleme in Bezug auf Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder Regelschmerzen haben mit einem verspannten Beckenboden zu tun.
Das Gute: Diese Übungen können zum Beispiel während des Zähneputzens, beim Warten an der Kassa oder an der Ampel gemacht werden. „Es macht aber auch durchaus Sinn, sich für sich selbst Zeit zu nehmen und die Übungen, als bewusste Auszeit in den Alltag einzubauen.“ Auch in den Fitnesscentern wird mittlerweile die Möglichkeit angeboten, den Beckenboden zu trainieren.
Abhilfe ist oft leicht
Besteht bereits eine Inkontinenz, sei der erste Schritt zur Abhilfe darüber zu sprechen, so die Expertin. Etliche Ursachen seien einfach behebbar. Erste Ansprechpersonen sind Hausärzt*innen, Gynäkolog*innen, Urolog*innen sowie Physiotherapeut*innen. Diese können, wenn nötig, in Spezialambulanzen zuweisen – für Frauen etwa die urogynäkologische Ambulanz in der Klinik Oberpullendorf.
Für Schwangerere und junge Mütter ist das aktive Beckenbodentraining besonders wichtig. „Es gibt keinen zu starken Beckenboden für die Geburt. Wer den Beckenboden gut anspannen kann, kann ihn auch gut entspannen“, beruhigt die Ärztin.
Mittlerweile gibt es auch Übungsgeräte für den Beckenboden, die mit dem Handy verbunden werden. Dabei führt man sich einen Teil des Gerätes vaginal ein. Über das Display des Mobiltelefons können Spiele durch das Anspannen des Beckenbodens bedient werden. „Das kostet nicht viel, man kann es zuhause machen und ist die ideale Vorbeugung, um den Beckenboden zu stärken“, weißt Primaria Eva Pavelka.
Pressen allgemein schwächt nämlich den Beckenboden. Deshalb beim Toilettengang Pressen vermeiden und besser tiefer sitzen und die Beine anziehen, sowie Ballaststoffe zu sich nehmen, damit der Stuhl nicht so hart ist. Ebenso belastend sind Laufen und Trampolinspringen.
Auch die hormonelle Veränderung im Alter führt dazu, dass die Muskulatur schwächer wird. Hier kann eventuell eine lokale Hormonersatztherapie Abhilfe schaffen. Im Alter hat ein gesunder Beckenboden wesentliche Auswirkungen auf das Gleichgewicht beim Gehen, da er gemeinsam mit dem Bauch und dem Rücken für unser Gleichgewicht verantwortlich ist.
Lebensgewohnheiten umstellen
Wann sollte man ärztlichen Rat suchen? Sobald Symptome auftreten – etwa, wenn man merkt, dass bei einer stärkeren Verkühlung ein bis zwei Tropfen abgehen – sei es höchste Zeit, so die Expertin. Bei Drangproblemen ist es wichtig, darauf zu achten, was man zu sich nimmt. Kaffee sowie Getränke mit Kohlensäure etwa treiben sehr stark.
Personen, die in der Nacht oft auf die Toilette müssen, sollten ab 18 Uhr nur mehr sehr wenig trinken. Das reduziert die Harnproduktion in der Nacht. „Mit solchen Kleinigkeiten kann man sehr viel Lebensqualität zurückgewinnen“, weiß die Primaria.
Natürliche Hilfsmittel bei Harnwegsinfektionen – auch zur Vorbeugung – sind Preiselbeeren oder der Einfachzucker D-Mannose (auch für Diabetiker*innen geeignet). Sie verhindern, dass die Bakterien an der Blasenwand andocken und helfen dabei, diese leichter auszuscheiden.
Blasentraining bei Reizblase
Bei Reizblase oder Dranginkontinenz empfiehlt die Gynäkologin Blasentraining. „Dabei geht es um eine Art Neuerziehung der Blase. Das bedeutet, dass man der Blase lernt, Harn eine gewisse Zeit zu halten“, erklärt Primaria Eva Pavelka. Die Blase hat ein bestimmtes Volumen. Geht man jede halbe Stunde auf die Toilette, passt sich die Blase an und schlägt auch dann Alarm, wenn sie noch lange nicht voll ist. Eine mögliche Übung: Spürt man den Harndrang, nicht sofort auf die Toilette gehen, sondern sitzen bleiben und den Beckenboden ein paar Mal anspannen. Dann entspannt sich die Blase normalerweise. Erst, wenn der Harndrang vorbei ist, geht man auf die Toilette. „Die Blase kann das Leben stark bestimmen und das Kommando übernehmen. Mit einem Blasentraining kann man Vertrauen und Sicherheit zurückerlangen, dass man seine Blase kontrollieren kann“, betont die Expertin. Mentale Entspannung sei beim Blasentraining ebenso wichtig wie die körperliche An- und Entspannung des Beckenbodens. Das Ganze kann auch medikamentös unterstützt werden.
Ablauf in der urogynäkologischen Ambulanz
Wenn das Training des Beckenbodens, die Blasenumerziehung oder physiotherapeutische Maßnahmen nicht den gewünschten Effekt erzielen, empfiehlt sich für Frauen der Besuch in einer Spezialambulanz zur urogynäkologischen Abklärung. Dort kommt man der Ursache schnell auf die Spur.
Zunächst erfolgt eine sehr detaillierte Befragung, sprich Anamnese, sowie eine gynäkologische Untersuchung mit dem Fokus auf den Beckenboden, der auch mithilfe von Ultraschall dargestellt wird. Ist es notwendig, wird eine urodynamische Untersuchung durchgeführt. Diese dauert ca. 15 Minuten. „Dabei wird die Blase gefüllt und wir schauen live, wie sie reagiert und wie viel Harn sie halten kann“, erklärt die Leiterin der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe. Handelt es sich um eine Belastungsinkontinenz, das heißt, der Harnverlust tritt vor allem bei körperlicher Belastung wie Husten, Niesen, Bergabgehen, Treppensteigen oder Positionsänderungen auf, dann gibt es die Möglichkeit, ein Band unter die Harnröhre zu legen. „Das ist ein spannungsfreies Netz, das die Harnröhre unterstützt. Immer wenn man hustet oder niest, drückt es die Harnröhre gegen dieses Netz, verschließt diese und unterdrückt dadurch den Harnverlust.“ Der Eingriff dauert rund eine halbe Stunde und wird unter Sedierung (keine Vollnarkose) durchgeführt. Patientinnen sollten sich danach zwar schonen, sind aber prinzipiell sehr schnell fit.
Tipps für Männer mit Inkontinenz-Beschwerden
Betroffene können sich an Hausärzt*innen oder urologische Spezialambulanzen sowie speziell ausgebildete Physiotherapeut*innen wenden. In Apotheken und Fitnesscentern werden teils Magnetfeldsessel angeboten, welche die Beckenbodenmuskulatur stärken.