Seit 25 Jahren ist Adipositas als chronische Krankheit anerkannt. Betroffene kämpfen aber immer noch nicht nur mit der Krankheit, sondern auch mit Vorurteilen. Univ.-Prof. Dr. Stephan Kriwanek, Facharzt für Viszeral- und Gefäßchirurgie sowie medizinischer Geschäftsführer der Gesundheit Burgenland, gab in der Radio Burgenland Sprechstunde wichtige Einblicke rund um Adipositas.
Viele Vorurteile
Übergewicht und Adipositas gelten in unserer Gesellschaft nach wie vor als negativ. Zahlreiche Umfragen zeigen, dass übergewichtige Menschen in verschiedenen Lebensbereichen benachteiligt werden – etwa bei der Jobsuche oder in der Karriereentwicklung.
Dabei ist es bemerkenswert, dass mittlerweile mehr als die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig oder adipös ist. Übergewicht ist also längst zur gesellschaftlichen Norm geworden – im Gegensatz zum Normal- oder Untergewicht. Umso interessanter ist die Frage, warum Übergewicht dennoch so stark stigmatisiert wird.
Ein zentraler Punkt in der öffentlichen Wahrnehmung ist die Annahme, Übergewicht sei selbst verschuldet – verursacht durch Bewegungsmangel, übermäßige Nahrungsaufnahme und mangelnde Disziplin. Menschen mit Übergewicht wird häufig unterstellt, sie seien willensschwach oder undiszipliniert. Die Verantwortung für ihr Körpergewicht wird dabei oft vollständig ihnen selbst zugeschrieben – ohne die komplexen sozialen, psychologischen und biologischen Faktoren zu berücksichtigen, die ebenfalls eine Rolle spielen.
Umdenken durch neue Erkenntnisse
Da Übergewicht inzwischen ein weit verbreitetes Phänomen ist und viele Menschen betrifft, setzt in vielen Bereichen ein Umdenken ein. „Ich bin überzeugt, dass sich hier zunehmend etwas verändern wird. Zudem haben wir heute deutlich mehr Wissen darüber, wie Übergewicht entsteht, warum es entsteht und welche Maßnahmen dagegen wirksam sein können“, betont der Experte.
Der Wissensstand hat sich in den vergangenen Jahren erheblich weiterentwickelt: Während vor etwa 15 Jahren vor allem genetische Ursachen im Fokus standen – nicht zuletzt wegen neuer analytischer Verfahren –, rückt inzwischen die Qualität der Ernährung immer mehr in den Mittelpunkt. Es geht heute nicht mehr nur darum, wie viele Kalorien man zu sich nimmt, sondern vor allem auch darum, welche Kalorien es sind. Diese Erkenntnis eröffnet neue Ansätze für Prävention und Behandlung.
50 Prozent der Bevölkerung übergewichtig
Die Häufigkeit von Adipositas hat seit den 2000er-Jahren in westlichen Gesellschaften weiter zugenommen. Dieser Trend zeigt sich besonders deutlich in bestimmten Altersgruppen.
Die aktuellsten verfügbaren Daten aus Österreich sind zwar bereits einige Jahre alt, weisen aber darauf hin, dass rund 50 Prozent der Bevölkerung übergewichtig sind. Dabei bestehen deutliche regionale Unterschiede: So sind Menschen im Osten Österreichs tendenziell schwerer als im Westen. Übergewicht wird mit zunehmendem Alter häufiger, doch besonders alarmierend ist der starke Anstieg bei Kindern und Jugendlichen. Dies verdeutlicht den dringenden Handlungsbedarf in diesem Bereich.
Risikofaktoren für extremes Übergewicht
Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist der entscheidende Punkt, dass Eltern frühzeitig erkennen, wenn ihr Kind zu viel isst und an Gewicht zunimmt. Je später Maßnahmen ergriffen werden, desto schwieriger gestaltet sich die Behandlung. Wichtig ist, gemeinsam mit Fachpersonen an einer Lösung zu arbeiten und alle möglichen Therapieansätze für Kinder und Jugendliche zu prüfen – dabei sollte möglichst auf Medikamente und Operationen verzichtet werden.
„Die Schwierigkeit ist, dass es in Österreich nicht viele Stellen gibt, die sich mit diesem Thema beschäftigen und es nicht einfach ist, die entsprechende Unterstützung zu finden“, gibt der Chirurg zu bedenken. Ziel ist es immer, zunächst eine Ernährungsanalyse durchzuführen und gemeinsam mit den Kindern gesunde Alternativen zu erarbeiten. Dabei ist es entscheidend, dass die Kinder selbst auch bereit sind, aktiv mitzuwirken.
Hilfe im Burgenland
Grundsätzlich können Menschen heute viele Informationen aus dem Internet beziehen. Dabei ist es jedoch wichtig, genau zu prüfen, woher die Informationen stammen, um Fehlinformationen zu vermeiden. Im Burgenland ist die Unterstützung bei Übergewicht oft mit der Diabetesversorgung verbunden, da Übergewicht und Typ-2-Diabetes eng miteinander verknüpft sind. An den meisten Krankenhäusern, in denen Diabetiker*innen behandelt werden, gibt es auch Angebote zur Behandlung von Übergewicht.
„Seit einigen Monaten gibt es zudem an der Klinik Güssing eine interdisziplinäre bariatrische Ambulanz, die vor allem internistisch arbeitet, aber auch für geeignete Patient*innen operative Verfahren anbietet“, freut sich der medizinische Geschäftsführer der Gesundheit Burgenland. Entscheidend sind dabei die fachliche Expertise und ein breites Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten, die von medikamentösen Behandlungen bis hin zu operativen Eingriffen reichen. Besonders wichtig sind die Ernährungstherapie (Diätologie) sowie psychologische Unterstützung, um Betroffenen den Umgang mit ihrer Situation zu erleichtern.
Boom der „Abnehmspritze“
„Die Übergewichts-Chirurgie war eine der ersten Einrichtungen, die Medikamente eingesetzt hat, die ursprünglich als Anti-Diabetika entwickelt worden sind. Diese Medikamente kamen vor allem bei Patientinnen und Patienten zum Einsatz, die nach einer Operation wieder an Gewicht zugenommen hatten“, erklärt der Mediziner. Da Wiederholungsoperationen ein erhöhtes Risiko bergen, wurde hier auf eine medikamentöse Behandlung in Form von Spritzen zurückgegriffen, da einige Patient*innen gut darauf angesprochen hatten.
Eine zweite Gruppe waren Patient*innen, deren Übergewicht nicht so stark ausgeprägt war, dass eine Operation in Betracht gezogen wurde. Für diese Personen gab es zuvor kaum Behandlungsoptionen.
Mit der offiziellen Zulassung dieser Medikamente zur Gewichtsreduktion kam es zu einem regelrechten Boom und einer starken Zunahme ihrer Anwendung. „Wenn man mit einem Medikament dieselbe Wirkung wie mit einer Operation erzielen kann, dann ist das die bessere Therapie“, so die klare Aussage des Experten. Frühere Appetitzügler hatten meist schwere Nebenwirkungen, weshalb viele vom Markt genommen wurden. Die heute eingesetzten Medikamente wirken über körpereigene Mechanismen und sind seit vielen Jahren in der Diabetestherapie bekannt. Dadurch kenne man ihre Wirkung gut, das Nebenwirkungsprofil sei vergleichsweise günstig. Die Pharmaindustrie hat sich auf den wachsenden Bedarf eingestellt – der Markt ist groß und wächst weiter.
Ein zentrales Problem bleibt jedoch die Nachhaltigkeit der Behandlung: Studien zeigen, dass viele Patient*innen nach dem Absetzen der Medikamente wieder an Gewicht zunehmen. Die medikamentöse Therapie dient somit oft als wichtige Unterstützung – ohne sie fällt es vielen schwer, das reduzierte Gewicht dauerhaft zu halten. Neben den Kosten ist also die langfristige Einnahme entscheidend, was viele vor Herausforderungen stellt.
Lebenslange Auseinandersetzung mit der Krankheit
Adipositas ist eine chronische Erkrankung, die eine lebenslange Auseinandersetzung erfordert. Patient*innen müssen im Verlauf der Behandlung zahlreiche Hürden überwinden – der Weg ist oft lang und herausfordernd. Mittlerweile sind Hausärzt*innen und Internist*innen in der Regel gut über die neuen medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten informiert und kennen deren Wirksamkeit. Die sogenannte Abnehmspritze wird derzeit aber nur für einen kleinen Teil der Patient*innen von den Krankenkassen übernommen. „Wer die Kosten selbst tragen muss, zahlt mehrere hundert Euro pro Monat – der finanzielle Aspekt stellt also eine erhebliche Belastung dar“, merkt Prof. Kriwanek an. Wichtig ist auch, dass die Behandlung ärztlich begleitet wird. Die Dosierung muss schrittweise und vorsichtig erhöht werden, da sonst Nebenwirkungen im Magen-Darm-Bereich deutlich spürbar sein können. Trotzdem gilt das Medikament als bedeutende medizinische Innovation – mit großem Potenzial für viele Betroffene.
Versteckte Kalorien
Es gibt grundlegende Empfehlungen, die unabhängig von der individuellen Situation stets gelten: ein möglichst stabiles Körpergewicht im gesunden Bereich, regelmäßige Bewegung, moderater Alkoholkonsum und das Vermeiden von Nikotin.
Ein wichtiger Aspekt in der Prävention ist außerdem der bewusste Umgang mit bestimmten Lebensmitteln – insbesondere mit stark zuckerhaltigen Getränken. Diese waren über viele Jahre hinweg etwa in Schulen leicht und günstig verfügbar. Vielen jungen Menschen – und auch vielen Erwachsenen – ist dabei nicht bewusst, wie viele Kalorien sie damit unbemerkt aufnehmen. Studien zeigen, dass solche Getränke und ähnliche hochverarbeitete Lebensmittel das natürliche Sättigungsgefühl stören. Sie führen dazu, dass kein echtes Gefühl von „satt sein“ entsteht, was zu einem ständigen Hungergefühl und übermäßigem Essen führen kann.
Die Zusammensetzung der Ernährung spielt daher eine zentrale Rolle. Betrachtet man die Situation weltweit, wird deutlich: In wohlhabenden Ländern ist Übergewicht häufiger ein Problem von Menschen mit geringerem Einkommen. Denn preisgünstige Nahrungsmittel enthalten oft besonders viel Zucker und Fett – Zutaten, die Übergewicht fördern. Gesündere Alternativen wie frisches Obst, Gemüse oder hochwertige Proteine sind dagegen meist teurer. In ärmeren Ländern ist das Bild umgekehrt – dort gilt Übergewicht oft als Zeichen von Wohlstand.
Ein sinnvoller Einstieg in eine gesündere Ernährung besteht darin, auf Fast Food, industriell verarbeitete Lebensmittel und zuckerhaltige Softdrinks zu verzichten. Stattdessen sollten möglichst viele Gemüse- und Obstsorten sowie Salate auf dem Speiseplan stehen. Diese liefern nicht nur meist weniger Kalorien, sondern enthalten auch viele wertvolle Nährstoffe und sekundäre Pflanzenstoffe, die für die Gesundheit wichtig sind.
Eine gesunde Ernährungsweise beginnt in der Familie, denn Kinder lernen vor allem durch Vorbilder. Allerdings gibt es auch Fälle, in denen Kinder aus gut informierten und gesund lebenden Familien dennoch übergewichtig werden. „Das zeigt die Komplexität des Ganzen“, so der Experte. Nicht allein Bildung oder Erziehung sind ausschlaggebend. Viele Faktoren – genetische, psychologische, soziale und gesellschaftliche – greifen hier ineinander.
Bariatrische Chirurgie für mehr Lebensqualität
In unserer Gesellschaft herrscht allgemein ein verzerrtes Körperbild vor. Die Kluft zwischen dem, was wir sehen, und der Realität wächst stetig – besonders durch die Darstellung in sozialen Medien. Umso wichtiger ist es, bei von Adipositas Betroffenen ein realistisches Körperbewusstsein zu fördern. „Das Wichtigste ist, dabei zu helfen, dass Menschen, die an Adipositas leiden – egal wie ausgeprägt sie ist – sich nicht aufgeben und meinen, sie hätten eh keine Chance. Wir müssen ihnen zeigen, dass es in jeder Phase einen Weg hinaus gibt, eben auch für jene extrem übergewichtigen Menschen, die fünfzig Kilo zu viel haben“, betont der Spezialist. Hier könne die Chirurgie wirklich viel verändern und verbessern.
Grundsätzlich betreffen Adipositas-Operationen nur eine relativ kleine Gruppe von Menschen, bei denen andere Behandlungsmethoden nicht zu einem erfolgreichen Gewichtsverlust führen. „Wer zum Beispiel fünfzig Kilo oder mehr abnehmen möchte, müsste oft jahrelang mit einer sehr starken Kalorienrestriktion leben – das schaffen nur wenige. In solchen Fällen ist eine Operation sinnvoll“, gibt der Universitätsprofessor zu bedenken.
Natürlich müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein: Die Patient*innen sollten so gesund sein, dass sie den Eingriff gut überstehen können. Außerdem müssen sie umfassend über die Folgen informiert sein, etwa über mögliche Veränderungen bei der Aufnahme von Vitaminen, Nahrungsergänzungsmitteln und die Anpassung der Ernährung. Eine solche Operation erfordert stets eine sorgfältige Vorbereitung über mehrere Wochen oder Monate.
Mit den verschiedenen chirurgischen Verfahren können für diese Patient*innen beeindruckende Erfolge erzielt werden. Gleichzeitig wird untersucht, ob künftig auch medikamentöse Therapien für diese Gruppe eine sinnvolle Ergänzung oder Alternative darstellen können. Zahlreiche Studien beschäftigen sich derzeit mit genau dieser Fragestellung.
Mit den verschiedenen chirurgischen Verfahren können für diese Patient*innen beeindruckende Erfolge erzielt werden. Gleichzeitig wird untersucht, ob künftig auch medikamentöse Therapien für diese Gruppe eine sinnvolle Ergänzung oder Alternative darstellen können. Zahlreiche Studien beschäftigen sich derzeit mit genau dieser Fragestellung.

