FÜNFUNDDREISSIG JAHRE SPÄTER
Peter Ernst
„Es ist ein Junge!“, sagte die Hebamme, trocknete mich ab und übergab mich dem Kinderarzt. Mir war kalt und das helle Licht im Kreißsaal blendete mich. Doch nach einigen Untersuchungen wurde ich in einen Strampler gepackt und durfte in die Arme meiner Mutter.
Das waren meine ersten Momente in der Klinik Güssing. Zwischen diesem Moment und meiner Rückkehr dorthin im Jahr 2023 liegen 35 Jahre – doch dazu kommen wir noch. Meine Kindheit habe ich durchwegs liebevoll in Erinnerung. Meine Eltern sagen bis heute, dass mein fröhliches, humorvolles Wesen alle entzückt hatte. Nach meiner Pflichtschulzeit wandelte sich mein behüteter Lebensstil in ein wildes, unbekümmertes Jugend-leben. Zahlreiche Partys und die Freude am Leben standen im Vordergrund. Beruflich hatte ich mich für eine Lehre als Karosseriebautechniker entschieden – mein tatsächlicher Werde-gang war damals also noch überhaupt nicht absehbar. Doch schon bald, mit der Entscheidung, die Matura in Form von Abendkursen zu absolvieren, setzte ich den ersten Schritt in die richtige Richtung. Nach meinem Abschluss verbrachte ich einige Jahre hinter dem Schreibtisch im Bereich Verrechnung, dennoch überkam mich der Gedanke, dass dies wohl doch noch nicht der erfüllende Traumjob sein konnte. Die Suche nach einer neuen Herausforderung brachte mich schließlich zu meinem jetzigen Beruf. Der Entschluss, die Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflege zu absolvieren, ließ nicht nur bei mir, sondern auch meine Frau zuerst große Zweifel aufkommen. Denn bis dato hatte ich keinerlei Erfahrung mit der Pflege von kranken Menschen. Doch schon nach den ersten Praktika, die ich vor allem in der Klinik Oberwart absolvierte, bemerkte ich, dass es die richtige Entscheidung war. Die Liebe zum Menschen und zum Beruf der Pflege entfachte in mir eine bis dahin ungeahnte Freude.
Nach Abschluss meiner Ausbildung begann ich in der Klinik Oberwart in der Abteilung für Orthopädie und Traumatologie zu arbeiten. In den ersten Jahren erlebte ich unzählige lustige, spannende, aber auch tragische Geschehnisse. Doch mit meiner fröhlichen Art gelang es mir ok, eine gute Stimmung zu verbreiten – bald war ich bei den Patient*innen und auch bei meinen Kolleg*innen als der Spaßmacher der Station bekannt. Da ich mir für die berufliche Zukunft alle Türen zur Weiter-entwicklung offenlassen wollte, begann ich bereits nach zwei weiteren Jahren mit dem Masterstudium für Pflegemanagement an der Donau-Universität Krems. Auch dort gehörte das Ablegen diverser Praktika – vor allem in Bereichen der Pflegedirektion – zum Studieninhalt.
»Selbstverständlich sind Sie herzlich bei uns zu einem Praktikum eingeladen, Herr Ernst«, entgegnete mir die Pflegedirektorin der Klinik Güssing am Telefon, als ich mich dort um ein Praktikum bewarb. Ich sagte zu und konnte in der kurzen Praktikumszeit viele Eindrücke sammeln. Am meisten hat mich der Umgang aller Angestellten untereinander geprägt. Der familiäre Zusammenhalt, die lachenden Gesichter und dass wirklich jeder jeden kannte, hinterließen einen großen Eindruck bei mir. Mit meinem Abschluss und der Rückkehr nach Oberwart kam dann langsam wieder der Alltag auf. Ich war zufrieden, spürte aber immer wieder einen leichten Unmut aufgrund unerfüllter Wünsche. Doch nach wie vor verbrachte ich erlebnisreiche Tage auf meiner orthopädischen Station – und hatte keine Absicht, mich neu zu orientieren.
Dann kam der 02. November 2022 – mein Handy klingelte. Ich stand gerade am Frühstücksbuffet in einem Hotel in München. Am Vortag hatte meine Lieblingsfußballmannscha!, der FC Bayern, ein Champions-League-Match gegen Inter Mailand gespielt, das übrigens 2:0 für Bayern endete. Die Nummer am Display kam mir bekannt vor. »Das ist doch die Vorwahl der Gesundheit Burgenland, oder?«, dachte ich mir noch, während ich schon abhob. Am Apparat war tatsächlich die Pflegedirektorin der Klinik Güssing. Ich stellte meinen Teller mit einer Semmel, von der schon das Nutella heruntertropfte, zur Seite. Was würde jetzt kommen? Plötzlich war ich da – mitten im Frühstückssaal, leicht verkatert vom Hofbräuhaus nach weniger als drei Stunden Schlaf – und meine Hände begannen zu schwitzen. In den nächsten Minuten sollte sich vieles für mich ändern: Ich erhielt die Möglichkeit, nach Güssing zu wechseln, als Leitung der Station D. Ich musste mich nun also entscheiden. Wollte ich weiter der Spaßmacher meiner Station bleiben oder war ich schon bereit für eine Leitungsposition, und das noch dazu in einem neuen Haus?
Fast gleichzeitig, ein bis zwei Wochen darauf, ergab sich sogar noch eine zweite Möglichkeit, mich beruflich neu zu orientieren. Gemeinsam mit meiner Frau diskutierte ich tagelang über die Vor- und Nachteile meines weiteren Weges. Auf Wunsch meiner Frau – Gott sei Dank, denn meistens liegt nämlich sie richtig – entschied ich mich für die Bewerbung in Güssing.
In der pflegerischen Leitung der Station D mit dem Schwerpunkt Orthopädie sah ich für mich das meiste Potenzial, meine Stärken und Fähigkeiten einzusetzen. Nach einem erfolgreichen Hearing wurde ich glücklicherweise angestellt. Schlussendlich kehrte ich im März 2023, rund 35 Jahre nach meiner Geburt, zurück in die Klinik Güssing und trat hier meinen Dienst als Stationsleiter an. Heute, zwei Jahre später, könnte ich mir kein anderes Szenario vorstellen. Die Arbeitsweise, das fröhliche miteinander Arbeiten, das gemeinsame Lachen – all das zeichnet Güssing aus. Hier und jetzt empfinde ich ein Gefühl des Glücks. Ich bin angekommen als Teil dieses Hauses. Mein zweites Wohnzimmer, meine zweite Familie.

PETER ERNST
 ist diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger und arbeitet als pflegerischer Leiter der Station D in der Klinik Güssing.